Nicholas Rosenbaum
Herbst 2022
Anmerkungen zu einer Berliner Theatersaison
1: Zwischen vorübergehend und tiefgründig: Gedanken über Mindfuck
(“Operation Mindfuck” von Yael Ronen and Dimitrij Schaad, Maxim Gorki Theater / Sonntag,
25. September)
Auf der Seite der Tiefgründigkeit mochte ich die weibliche Dynamik. Die komplexe
Natur, wie Mindfuck Weiblichkeit bearbeitete, ließ mich fragen, ob die männlichen Figuren und
sogar ihre Darstellung absichtlich minderwertig und zweitrangig gemacht wurden. Die
Hauptprotagonistin und Antagonistin (in ihren vielen Formen) waren beides Frauen, ebenso wie
die ethische Stütze des Theaterstücks: Maze, die Alice von dem Rand der totalen ideellen
Besessenheit zurückbrachte. (Das war einer meiner Lieblingsteile des Theaterstücks. Es
verstand, dass totalitäre ideologische Interpellation ein Vakuum ohne Fragen brauchen. Die
Architekten der großen Lügen müssen diese so vollständig naturalisieren, dass sie die ‘wirkliche’
Wahrheit ersetzen, sogar für sie selbst.) Aber Mindfuck ist nicht Feminismus per se; es benutzt
vielleicht das grundlegendste aber auch umstrittenste weiblichen Symbol: Eva. Erin, eine
satanische Figur, ist nie ohne einen roten Apfel, den sie isst. Erin hält und isst immer einen roten
Apfel, das kanonische Symbol des Untergangs, um ihre untrennbare Verbindung zum Bösen
darzustellen. In der Geschichte der westlichen Theologie, Literatur und Kunst begründete Evas
Ursünde eine allgemeine Skepsis gegenüber dem Weiblichen, insbesondere weiblicher
Sexualität. Daher denke ich, ich sehe die Enthüllung von Erins masochistischen Fantasien als
eine weitere Anspielung auf Eva. Mit ihren ‘Fake News’ und Verschwörungstheorien kontrolliert
Erin die Herzen und Geister der Welt mit Einfluss auf Wahlen und Gewalt, und dennoch möchte
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sie sexuell dominiert werden. Hier entwickeln Yael Ronen und Dimitrij Schaaddas einen sehr
reichen Charakter. Der Rest von MindFuck hätte von diesem Niveau von Nuancen und der
Fähigkeit für dialektische Widersprüche profitiert.
Aus dieser Sorge kommt meine Metakritik. Nach diesem Theaterstück und unserer
Klassenunterhaltung hatte ich eine hauptsächliche Frage, deren Wichtigkeit jenseits von
Mindfuck ist. Ich frage mich, was ist Drama? Ist es Literatur, oder ist der Fakt unwichtig, dass die
Stücke geschrieben sind? Ja, wir hatten ein Skript für Mindfuck, aber ich glaube nicht, dass es
veröffentlicht war, so vielleicht sollten wir Theaterstücke nur als Theaterstücke sehen. Welche
„und kein Ende”-Eigenschaften (Goethe über Shakespeare) bot dieses Drama an? Vielleicht
finden wir ewige Bedeutung in der mechanischen Dramaturgie, anstatt der Bedeutung der
Geschichte. Weil Theater visuell ist, kann es so vielleicht kanonisch werden. Vielleicht ist
Mindfucks Hightech-Inszenierung in sich selbst ausreichend, aber ich würde behaupten, das ist
nicht genug, um länger als in der heutigen Zeit interessant zu bleiben. Niemand könnte leugnen,
dass Mindfuck ästhetisch umwerfend war, aber es ist weniger klar, ob das schöne Spektakel das
Theaterstück verbesserte oder dass es das Theaterstück alleine war. Ich sehe Mindfuck als ein gut
gemachtes Zeitstück; wie die meisten Werke ist es ein vorübergehendes Phänomen. Politische
Kritik sollte sich nicht nur auf unsere Gegenwart beziehen. Ein Beispiel dafür ist George Orwells
1984 „und kein Ende”; ich denke, Mindfuck ist es wahrscheinlich nicht. Sogar die Bewegung
zwischen Englisch und Deutsch im Schauspiel macht die Zeitgenossenschaft der Inszenierung
klar. Ich glaube, dass die Leute hinter Mindfuck behauten werden, dass sie Kunst in der Tradition
von Bertolt Brechts Verfremdungseffekt machen. Im Gegensatz dazu finde ich nicht, dass
Mindfuck viel Verfremdung produziert, weil die Begriffe, mit denen sie ringen, nicht darüber
hinaus gehen, was wir jeden Tag sehen.
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2: Gegen rationalisierte Gewalt: Reflexionen über Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul
Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des
Herrn de Sade
(Eine Filmvorführung von Peter Brooks Marat/Sade nach dem Theaterstück von Peter Weiss /
Donnerstag, den 13. Oktober)
Auch wenn de Sade in seiner Nostalgie für eine Zeit, als Hinrichtung zeremoniell war,
vielleicht grausam wirkt, finde ich seine Philosophie humaner als die Marats. De Sade kritisiert
die totale Reglementierung der Hinrichtung und alles anderen (zum Beispiel der Irrenhäuser) in
der Modernität, die die Französische Revolution erfand. Je zwangloser Hinrichtungen werden,
desto apathischer kann man sie vollstrecken. Heute können wir diesen Trend erkennen, und heute
ist es noch extremer. Der Zenit der Mathematisierung der Hinrichtung: Leute in Büros töten aus
der Entfernung Menschen in der ganzen Welt mit Algorithmen und Robotern, und wir in
Amerika sehen diese Toten nicht und fühlen nichts. Der Weg zum Blutvergießen ist klar; es ist
kein Zufall, dass sie das Töten zu mathematisierten begannen und es damit leichtfertiger tun
konnten. Die Menschen wurden für Marat bloße Zahlen, Instrumente für oder gegen die
Revolution, und hatten niemals einen Eigenwert. Marat ist so gefährlich (und, für mich, böse)
aus dem gleichen Grund, wie die Anhänger von jeder kollektivistischen Ideologie gefährlich
sind, von Stalinismus bis Nationalsozialismus. Unter kollektivistischen Ideologien ist der
Einzelne entbehrlich. Ich denke, de Sade trifft die Entscheidungen, die er trifft, und inszeniert
das Chaos, das er inszeniert, um die Kontinuität zwischen, erstens, der mörderischen Demagogie
Marats und der Mob-Mentalität seiner Anhänger (die Montagnards) und, zweitens, der naiven,
unehrlichen Bürgerlichkeit des neuen ‚aufgeklärten‘ Irrenhausdirektors, Abbé de Coulmiers, zu
zeigen. Ironischerweise ist Marat dem reichen Abbé ähnlicher als de Sade.
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Hier denke ich, dass Foucault Einblick geben kann. Ich bin kein großer Fan von Foucault.
Ich bin der Meinung, dass Foucaults Mischung von Nietzscheanischem Perspektivismus mit
Vorstellungen Marx’ über Dialektik alles auf willkürliche Macht reduzierte und, zusammen mit
Derrida, Begriffe von intellektuellem und ästhetischem Verdienst herabsetzte. Das höhlte die
Geisteswissenschaften an den Universitäten zutiefst aus und begründete unsere heutige Kultur
des pseudolinken Ressentiments. Jedoch argumentierte Foucault sehr treffend mit seinem Werk
über die Machtentwicklung. Er sagte, dass die Macht nicht verschwinden oder sogar wirklich
liberalisiert werden kann. Stattdessen verwandelt sie sich, und das kann heimtückischer sein,
weil wir sie nicht mehr als Macht identifizieren. Der de Sade von Weiss spiegelt Foucault wider,
wenn er über die Abschaffung der grausamen Hinrichtung wie Zerstückelung zugunsten von
,aufgeklärteren‘ Hinrichtungsmethoden wie der Guillotine spricht. Gewalt zu rationalisieren
heißt sie zu verschärfen. Foucault bezeichnete die neueste Iteration von Macht „le biopouvoir,“
oder Bio-Macht, und die Körperschaft, die in der Zeit von Marat den Dämon von Paris
organisierte, hieß „Le Comité de salut public.“
In der Filmproduktion benutzt das Stück im Stück die Teile von Guillotinen für viele
Requisiten. Die Guillotine fungiert in der Inszenierung als das Herzstück um die symbolische
Zentralität dieses Massenmordinstruments für das gesamte Drama der Französischen Revolution
zu vermitteln. So wie die Allgegenwart der Guillotine im Stück innerhalb des Stücks die
Revolution als blutig und mörderisch bis ins Mark anzeigt, so zeigt auch der Ort der Aufführung
des Stücks die bürgerliche Gesellschaft von Coulmier an. Coulmier und seine weiblichen Gäste
denken, dass sie so zivilisiert und edel sind, aber wir sehen ihre Gesellschaft als nicht weniger
brutal. Der Schauplatz ist ein Irrenhaus, das Geisteskranke gegen ihren Willen festhielt und
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schlug, wenn sie über die Stränge schlugen. Coulmier zeigt die gleichen tyrannischen Züge wie
Marat und König Louis XVI.
3: Die Gewalt der Raumnutzung
(Happy End von Sebastian Sommer nach dem Musical von Brecht und Weil, Renaissance
Theater / Dienstag, 18. Oktober)
Ich fand die Raumnutzung bei Happy End sehr wirkungsvoll. Die Schauspieler
verwenden das Bühnenbild, um die gesamte Inszenierung zu verbessern. Sie wohnen darin; sie
waren eins mit dem Raum als ein synthetisches Ganzes. Ich mag diese Art von Weltenerstellung
und ich denke nicht, dass es widersprüchlich zur Entwicklung des Verfremdungseffekts zu Ehren
von Brecht in einer Inszenierung, die seinen Namen trägt. Es wäre antibrechtisch, die
äußerlichen Eigenschaften der ,Anfertigung‘ zu verstecken, als wenn sie natürlich wären— das
ist die Kritik von Nietzsche-Brecht gegen den Deus ex Machina nach dem Tod der griechischen
Tragödie beziehungsweise gegen das Gesamtkunstwerk Wagners. Wie Nietzsche in „Über
Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ lehrt, dürfen wir nie vergessen, dass eine
Maske eine Maske ist, dass ein Ersatz ein Ersatz ist, dass eine Metapher eine Metapher ist. Die
Metaphern sind Nietzsches Vorzeigebeispiel im Text, weil er im Kontext von Sprache behauptet,
dass wir unsere phänomenalen Bezeichnungen aushärten als wenn sie Wahrheit wären und wie
das ihre Vitalität tötet.
Man kann nicht in der Präsenz von Happy End vergessen, dass man innerhalb der
konstruierten Welt der Künstler ist, zum großen Teil, weil es so laut, widerlich und übertrieben
ist. Aber wir in dem Publikum sehen den Nutzen des Bühnenbilds. Wir sahen die Dame in Grau
an der Seite des Würfels raufklettern, wo das Stück größtenteils inszenierte wurde— ein
geschlossenes System, eine Bühne in der Bühne. Sie saß oben in der Dunkelheit, aber wir
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konnten sie sehen, während die schwachen Männer keine Idee hatten, dass ihre Chefin da war,
bis sie sprach und sie erschreckte. Sie blieb über dem und außerhalb des Würfels, während die
,Gangster‘ in dem Käfig gefangen blieben unter dem arbiträren Willen „Der Fliege“. Außerhalb
der Box zu existieren, bedeutet Macht und Freiheit zu haben; als Chefin macht es Sinn, dass sie
von über dem und außerhalb des Würfelrahmens befiehlt.
In dem Stück deutet das Verlassen des Würfels eine Überschreitung an. Ich stelle mir vor,
dass die steifen Grenzen des Würfels vom Theaterregisseur als Absperrungen des
Handlungsspielraums verstanden werden. Also hetzen die Schauspieler in den intensivsten
Szenen bis zum Äußersten und stoßen so natürlich gegen die Wände. Ein Beispiel ist, wenn
Lilien und Jimmy total wilde sexuelle Sitzungen haben: Sie ist das Raubtier und noch einmal ist
der Mann schwach und hilflos gegenüber der Gerissenheit der Frau. Abschließend stellt der
Regisseur ein Stück von absurdem Handlungsbetrieb an einen Ort, der dafür zu klein ist, damit
die Schauspieler gegen Fesseln kämpfen können.
4: Theater verdunkelt durch Theatralik
(Die Vielleichtsager von Alexander Eisenach, Berliner Ensemble / Sonntag, 30. Oktober)
Das Theaterstück Die Vielleichtsager wurde entweder ohne Sorgfalt oder mit Verachtung
für Brecht inszeniert. Sie scheinen Brechts bedeutenden Aufsatz „Das moderne Theater ist das
epische Theater" entweder nicht gelesen oder ignoriert zu haben. Das holografische bunte Licht
sah ab und zu aus wie ähnliche Projektionen, die ich auf Fotos von Wagner-Inszenierungen in
Bayreuth sah. Das Licht Der Vielleichtsager kommt aus dem Bühnenbild selbst, ohne sichtbare
Spuren seiner wahren Herkunft oder Produktion zu zeigen und verschmilzt synthetisch mit der
Szene.
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Es gab wenig Rechtfertigung für viele der ästhetischen Entscheidungen, die von der
Handlung oder dem Grund der Produktion völlig getrennt schienen. Gelegentlich drifte ich aus
dem deutschen Geschwätz zwischen den Schauspielern ab und schaue (denn die Bilder der Film-
und Fernsehkultur kamen aus Wagners Gesamtkunstwerk) die ästhetische Einheit vor mir an.
Dies waren für mich die schönsten Augenblicke der Inszenierung.
Brecht hätte diesen ziellosen Ästhetizismus verabscheut, diese Übergabe der Macht über
die Inszenierung an den Überbau. Die Kulisse existiert, um die Ziele des Lehrstücks zu erfüllen.
Die Fähigkeit eines Zuschauers, sich in der ästhetischen Pracht allein zu verlieren und nichts in
den Bereich der Ideen mitzunehmen, kennzeichnet ein Versagen im Sinne von Brecht.
Ich fand die Inszenierung grundsätzlich unernsthaft. Komödie kann tiefe Bedeutung
haben, wenn die Mittel der Ironie und Satire klar aufgedeckt werden. Die gesamtkunstwerkartige
Natur der Inszenierung machte eine solche Aufdeckung unmöglich oder unerwünscht.
Zusammen mit der unverbindlichen, wechselnden Unterton der Schauspielern machte das eine
verwirrende Stimmung, nicht weil es Verfremdungseffekt produzierte, sondern einen
allgemeinen Mangel von Fokus heraufbeschwor.
Es ist fast eine Leistung, diese Brechtsche Geschichte unernst zu machen. Der Jasager
und Der Neinsager lesen sich fast wie biblische Parabeln. Mit ihrer einfachen Herangehensweise
scheinen sie oberflächlich kurz und unkompliziert, aber sie schlagen sich mit den komplexesten
und ewigsten menschlichen Problemen herum. Das ist die Arroganz des New-Age-Theaters und
der frechen Jugend darin. Was lässt dich denken, dass du etwas produzieren kannst, das besser
oder (sogar schlechter, unvorsichtiger und narzisstischer) relevanter für unsere Zeit ist als bei
Brecht, anstatt nur ein Durcheinander zu bauen? Ich sehe, dass ich wieder in die Polemik im
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ererbten Stil Harold Blooms verfiel, aber ich bestätige voll und ganz meine Kritik dieses
Untergangs.
5: Sinnlosigkeiten angesichts der Krise
(Der Krieg mit den Molchen von Clara Weyde, Schaubühne am Lehniner Platz / Mittwoch, 2.
November)
Der Krieg mit den Molchen kultivierte eine Stimmung dem epischen Titel angemessen.
Die Art und Weise, wie darin Stress erzeugt wurde, repräsentierte den Zorn der jüngeren
Generation wegen Untätigkeit und Verantwortungslosigkeit angesichts von Klimawandel.
Dennoch passiert der dynamischste Einblick ins Thema an einem seltenen, untypisch ruhigen
und (zu, wie ich erklären werde) ungestressten Augenblick der Inszenierung.
Die Szene, in der ein Schauspieler leise und gewissenhaft jede Kugel verstreut über die
Bühne fegte, war mein Lieblingsmoment der Inszenierung. Diese handlungsloseste, objektiv
ödeste Szene fühlte sich paradoxerweise für mich am wenigsten öde an, inmitten so vieler
Szenen von absurdem Handlungsbetrieb, aber nichtsdestotrotz ohne Überzeugungskraft. Es war
eine Szene der Innerlichkeit des Fegers, aber mit dieser Zeit für Reflexion übertrug sich seine
Mühe auf uns, und für einige Minuten verlangsamte sich der chaotische Zug, was uns erlaubte,
wirklich zu denken, zu atmen. In dieser raren Öffnung dachte ich darüber nach, wie wir uns als
eine Gesellschaft und zunehmend auch als eine Welt benehmen in der gleichen Art wie diese
typisch absurde Figur. Die Sinnlosigkeit seines Vorhabens war allen im Publikum klar. Diese
dramatische Ironie wäre ein Triumph für einen Depp im Publikum gewesen. In diesem
Augenblick der Tiefgründigkeit und Gelegenheit für Reflexion könnten die Zuschauer erkennen,
dass wir schuldig wie der Feger sind.
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Unsere Methoden, um unsere eigene Umweltkrise und Ressourcenmisshandlung zu
drosseln, sind genauso ineffizient; der Feger war eine präzise Abstraktion, keine Allegorie. Auch
mangelt es uns an der Gerissenheit und der globalen Perspektive, die wir brauchen, um Wandel
zu bewirken. Auch setzen wir unsere analogen Kugeln eine nach der anderen ins Kugelbad
zurück. Wir nehmen Segeltuchtaschen zum Supermarkt mit, hören auf Fleisch zu essen, und
duschen kurz, und dann glauben wir, Fortschritte gemacht zu haben. Diese Täuschungen des
neoliberalen Narzissmus, das selbstsüchtige Mitgefühl aus der Ferne, ist nicht nur nicht genug,
sondern es ist sogar kontraproduktiv, weil es lediglich Leute von ihrer Pflicht befreit. Wenn wir
glauben, dass wir etwas gutes getan haben (unabhängig davon, ob wir es wirklich getan haben
oder nicht), haben wir das Gefühl, dass wir unsere Aufgabe erfüllt haben und weniger Willen,
entlang des schwierigen und unglamourösen Wegs der echter Veränderungen zu gehen.
Vielleicht klinge ich gemein, zu kritisch, weil die Figur in dieser Szene absolut nicht
bösartig ist. Eigentlich ist sie ohne Eigenschaften; ihre völlige Ausdruckslosigkeit inmitten der
Arbeit ist das Problem. Die Gefahr der gut gemeinten Naivität ist grenzenlos.
6: Darstellungen von menschlicher Fungibilität
(Der zerbrochene Krug von Anne Lenk und David Heiligers, Deutsches Theater / Donnerstag,
10. November)
Mehr als jedes andere Stück, das wir sahen, war diese Inszenierung von Der zerbrochne
Krug am menschlichsten. Ich sah eine detaillierte Interaktion zwischen archetypischen
Menschen, die übertrieben war, damit das Drama der Beziehungen für uns aufgedeckt werden
würde. Die einfache Form der Inszenierung legte die Natur der ‚menschlichen,
allzumenschlichen‘ Relationalität bloß. Die leichten Manipulierungen der Strategie und die
Zuckungen der Angst, die wir oft nicht sehen konnten und aus anderen Quellen herausfinden
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müssen, wurden offensichtlich; alles war nackt vor uns zu sehen, damit es viszeral war. Ich weiß
nicht, ob dies mit Absicht gemacht wurde, aber die Schauspieler erinnerten mich an Marionetten,
das Thema von Kleists berühmtesten Aufsatz „Über das Marionettentheater“.
Kleist wird erinnert als ein Meister der Kunst der Ironie, und ich denke, dass eine Art und
Weise, wie diese Inszenierung diese Tatsache ehrt, das Stillleben hinter der einfachen, engen
Bühne war. Erstens stellt dieses Genre an Stillleben der Füllhörner voll von Gemüse, Obst,
Fleisch und Meeresfrüchten dar, wie alles, das frisch ist, älter und faul wird und stirbt. Sie
erinnern daran, dass alles vorübergehend ist, dass der Untergang immer bevorsteht, und dieser
Hintergrund überdeterminiert dieses Stück, das einen Fall im doppelten Sinne darstellt, in großer
dramatischer Ironie und unheimlicher Dunkelheit.
Trotzdem ist die Eigenschaft eines Stilllebengemäldes, das ihre Aufnahme für mich am
interessantesten machte, der Raum für viele und vieldeutige Interpretationen darin. Ich denke
daran, was meine Professorin über das Gleiche in dem Werk Samuel Becketts gesagt hatte.
Beckett war und bleibt permanent sehr beliebt bei Philosophen und philosophischen
Literaturkritikern genau wegen seiner Leere. Ich sage das nicht, um zu meinen, dass es keine
Philosophie darin gibt; ich glaube nicht daran. Es meint nur, dass die Bedeutung hinter Werken
wie Fin de Partie/Endgame und En attendant Godot/Waiting for Godot nicht klar offensichtlich
ist. Stattdessen gibt es Feinheit und viele Wege der Interpretation, denen man zu völlig
unterschiedlichen und widersprüchlichen aber gleichberechtigten Ergebnissen folgen kann. Ich
glaube, dass das auch der Fall mit Stillleben und ungerechten und chaotischen Fällen ist.
Stillleben haben nicht die visuelle Tiefe der Porträtgemälde noch die assoziierte Tiefgründigkeit
im Gebiet der Ideen. Mein Punkt ist, dass Stillleben ein Beispiel von Kunst sind, die vage genug
und vieldeutig genug ist, um eine Leinwand der Möglichkeiten anzubieten. Diese Flexibilität ist
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deutlich erkennbar in den Darstellungen auf diesen Stillleben; ein perfektes Beispiel sind die
Gemüse-Stillleben Giuseppe Arcimboldos, die zwei verschiedene Bilder darstellen, wenn man
sie umdreht. Weil Stillleben so statisch in ihrer Kunst sind, bieten sie ironischerweise fast völlige
Freiheit, wenn es um ihre Interpretation geht. Sie können alle Ideen in sich selbst enthalten und
alle (Gerichts)Urteile erlauben. Die Gerechtigkeit am Ende von dieser Inszenierung ist ein
Ergebnis dieser Freiheit, aber es ist sehr wichtig zu wissen, dass das nicht zwingend passierte,
wenn wir uns mit reiner Menschlichkeit beschäftigen.
7: Geschlecht gestrichen
(Mutter Courage und ihre Kinder, Direktor: Oliver Frljić, Maxim Gorki Theater / Samstag, 19.
November)
Die Inszenierung der Mutter Courage, die wir gesehen haben, wurde nur mit Frauen
besetzt. Natürlich war das für alle sofort klar; das Stück begann, und wir hatten vielleicht 6
Frauen auf der Bühne, und das befremdete Leute, die Brechts Text kennen, weil eine Eigenschaft
dieses Stücks die Balance des Geschlechts und der Dialektik darin ist. Der Text eröffnet mit zwei
Männern, dem Werber und dem Feldwebel. Sie klagen über den chronischen Mangel an
Rekruten und den damit verbundenen Mängeln an „Moral“ und Ordnung wegen der
Genusssucht, die in der Abwesenheit der gesunden Aufgabe – erzwungen durch den Krieg –
möglich waren. Dieses Anfangsthema ist völlig im Gebiet der Männer und Bräuche von
Männlichkeit. Mutter Courage selbst (oder, im Kontext dieser Inszenierung, die Mütter) hat zwei
Söhne zusätzlich zu ihrer Tochter, und das ist nicht irrelevant, wie mein obiges Beispiel und alle
Entscheidungen Brechts. Das Geschlecht der Kinder beeinflusst ihre Rolle, ihre Handlungen und
das Medium ihrer Courage. Kattrin ist keine Soldatin, weil sie ein Mädchen ist, und ich stelle mir
vor, dass das undenkbar gewesen wäre, aber dennoch ist sie eine Kriegerin in einem höheren
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Sinne, als sie ihr Leben opfert, um von dem bevorstehenden Angriff zu warnen. Wir konnten
nicht vollständig sehen, dass Kattrin vielleicht die mutigste Figur des Stücks ist— ich spreche
natürlich davon im Kontext des Texts, weil ich keinen Eindruck von Kattrin aus dieser
Inszenierung bekommen habe. Es gab uns keine Kattrin als solche aber stattdessen einige
,Kattrinen‘ ohne einen verbindenden Charakter. Man kann Brechts Figuren aus dieser
Inszenierung nicht kennenlernen. Wir konnten sie nicht vollständig sehen, weil die Vielfalt der
Wege mutig und edel und von Wert zu sein nicht vollständig dargestellt wurde, weil die wichtige
Dimension des Geschlechts in dem Stück ausgelassen wurde. Vielmehr: Dieser Aspekt wurde
sogar verdorben, weil die Figuren nicht auf einzelne Schauspielerinnen fixiert wurden, sondern
permanent wechselten. Ich vergaß diese Entscheidung bei der Besetzung der Rollen innerhalb
der ersten Szene, als es sehr natürlich wurde, aber was natürlich wurde, fehlte meistens der Tiefe,
die bei Brecht möglich ist, ohne Grund jenseits von unkünstlerischer Identitätspolitik.
8: Kurzweiligkeit, erkörpert
(Decamerone von Kirill Serebrennikov, Deutsches Theater / Dienstag, 22. November)
Kirill Serebrennikovs Decamerone war meine Lieblingsinszenierung, die wir gesehen
haben, aber ich bin mir nicht sicher, warum das so ist. Man kann individuelle Eigenschaften
eines Kunstwerks identifizieren, die es stärker oder schwächer gemacht hat, aber die
unvermeidliche Untrennbarkeit der Elemente in Theaterinszenierungen macht die Bewertung
eines ganzheitlichen Ganzes nötig. Es ist sehr schwierig, genau zu bestimmen, warum ein Werk
so angenehm war (z. B. Decamerone), während ein anderes genauso unangenehm und ermüdend
war (z. B. Der Theatermacher Berliner Ensembles). Eine gut gemachte Eigenschaft von
Decamerone: Es war kurzweilig im wörtlichen, physischen Sinne des Worts, wie es von einem
Nicht-Muttersprachler verstanden wird. Decamerone oszillierte zwischen sehr lustig und
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unglaublich ernst, zwischen niedrigen Bildern und erhabener Ästhetik, zwischen chaotischem
Bühnenspiel mit vielen blinkenden Requisiten und feierlichen Monologen vor einem
Hintergrund von leerer Dunkelheit . Es war alles dabei, und der Wechsel zwischen diesen Szenen
war schnell genug, damit wir nicht das Interesse verloren.
Meine Lieblingsaugenblicke in der Inszenierung waren die obenerwähnten Monologe.
Einige kommt aus Georgette Dee, einer Dragqueen, obwohl es nichts Albernes und Unernstes an
seinen Auftritten gab, die in ihrer Tiefe und viszeralen Vitalität unheimlich waren. Seine Stimme
so reich und echt, ich fühlte seine Worte mehr als alle anderen, die wir gehört haben. Der
Monolog am Ende des Stücks über der komplexen, unordentlichen und schwierigen Totalität, die
eine Beziehung von Liebe und Sex ist, war genial. Obwohl die Geschichten so schnell zwischen
Geschichten wechselten, hetzte man uns nicht durch kritische Momente wie diesen. Die gesamte
Inszenierung wurde sorgfältig komponiert mit Höhen und Tiefen von großer Kraft.